Seitdem Russland die Erdgaslieferungen auf 40 Prozent zurückgefahren hat und der Wirtschaftsminister Robert Habeck die zweite Stufe des „Notfallplan Gas“ ausgerufen hat, wächst die Angst, dass es kurzfristig zu einem Lieferstopp kommen könnte. Doch welche Konsequenzen hätte ein solches Szenario für deutsche Unternehmen? Erfahren Sie in der heutigen Ausgabe mehr über die Folgen eines Gaslieferstopps auf die deutsche Wirtschaft.
Was, wenn Putin das Gas abstellt?
Im Falle eines vollständigen Lieferstopps von russischem Gas würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die dritte Stufe des „Notfallplan Gas“ ausgerufen. Die sogenannte Notfallstufe sieht vor bei Bedarf in den Markt einzugreifen, um „geschützte Kunden“ wie etwa Haushalte und Krankenhäuser weiterhin mit Gas versorgen zu können. Diese Gruppe entspricht rund der Hälfte des gesamten Gasverbrauches. Im Rückschluss bedeutet dies, dass viele Unternehmen kein Gas mehr beziehen könnten oder nur noch zu Kosten, die ein profitables Wirtschaften nahezu unmöglich machen würden.
Die deutsche Industrie nutzt Gas vor allem für Prozesswärme und ist extrem abhängig von dem Rohstoff. Dies reicht von der Chemie-, Stahl-, und Nahrungsmittelindustrie bis hin zur Papier- und Glasproduktion. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl warnte bereits, dass es zu einem Produktionsstillstand kommen würde, sollte Russland den Gashahn abdrehen. Dies könnte eine Kettenreaktion auslösen, denn viele andere Branchen wie die Automobil- und Elektroindustrie sind auf Stahl angewiesen. Ein weiteres Beispiel einer derartigen Kettenreaktion ist Ammoniak, welches mit Gas produziert wird und als Düngemittel für die Nahrungsmittelproduktion verwendet wird. Ein Lieferstopp von russischem Gas könnte sich also wie ein Lauffeuer über die gesamte deutsche Wirtschaft ziehen.
Viele Unternehmen arbeiten bereits an Notfallplänen, um auf einen möglichen Lieferstopp vorbereitet zu sein. Doch schon jetzt ist absehbar, dass das Gas nicht vorständig substituiert werden kann. Eine Analyse des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ergab ein kurzfristiges Substitutions- und Reduktionspotential für die deutsche Industrie von nur acht Prozent (Vgl. Abbildung 1). Für ganz Deutschland sieht es nicht ganz so düster aus, denn hier liegt das Gesamtpotential bei 19 Prozentpunkten, was einem Drittel der russischen Gasimporte entspricht. Das höchste Substitution- und Reduktionspotential liegt bei den privaten Haushalten und der ungekoppelten Stromerzeugung, wo in etwa bei der Raumwärme große Einsparpotentiale realisiert werden können. Im Falle eines Lieferstopps resümiert der BDEW, dass eine „reale Gefahr von Produktionseinschränkungen, Betriebsstillegungen und Unterbrechung von Lieferketten“ besteht.
Abbildung 1: Kurzfristige Substitutions- und Reduktionspotentiale für Erdgas
Die Versorgung für Haushalte ist mehr oder weniger gesichert, dennoch könnte es die deutsche Wirtschaft sehr hart treffen. Eine Analyse führender Forschungsinstitute deutet darauf hin, dass Deutschland im Falle eines Lieferstopps in eine kurze aber schwere Rezession stürzen könnte. Die Energiepreise würden explodieren und sich auf viele weitere Kategorien ausbreiten, ohne dass der Staat und die Europäische Zentralbank (EZB) kurzfristig viel dagegen machen können. Die über Jahre aufgebaute Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas kann nicht von heute auf morgen abgebaut werden. Dies bedarf einer vollumfänglichen Transformation hin zu erneuerbaren Energien und anderen innovativen Technologien. Bis dahin gilt es mehr Gas aus Norwegen und Niederlande zu beziehen, sowie Flüssiggas aus Katar und den USA. Noch fließt das Gas, jedoch benötigt Deutschland rund 100 Tage, um bei gleichbleibender Lieferung 90 Prozent der Gasspeicher aufzufüllen. Es scheint sich ein Krimi abzuzeichnen. Was übrigens für Deutschland gilt, gilt auch für viele andere europäische Staaten.