Wenn Unternehmen einen Transformationsprozess durchlaufen, resultieren hieraus spezielle Anforderungen an ihre Führungskräfte. Dies gilt es beim Besetzen der Führungspositionen und beim Entwickeln von deren Inhabern zu beachten.
Unternehmen geraten immer wieder in Situationen, in denen sie ihr Geschäftsmodell überdenken und sich im Markt neu positionieren müssen. Sie müssen sich sozusagen neu erfinden, um auch mittel- und langfristig erfolgreich zu sein. Das ist aktuell im Gefolge des Ukraine-Krieges und der immer stärker spürbar werdenden Folgen des Klimawandels gehäuft der Fall; doch auch unabhängig von diesen Changetreibern stehen Unternehmen nicht selten vor dieser Herausforderung – unter anderem weil der technologische Fortschritt oft neue Problemlösungen ermöglicht und Veränderungen der Kundenwünsche bewirkt.
Möchte oder muss ein Unternehmen einen solchen Transformationsprozess durchlaufen, dann resultieren hieraus spezielle Anforderungen an seine Führungskräfte. Denn bei ihm muss das Unternehmen – anders als bei vielen Change-Projekten – nicht nur punktuelle Veränderungen, sondern einen sogenannten Musterwechsel vollziehen. Das heißt, es muss
- sein gesamtes bisheriges Denken und Tun hinterfragen und
- sozusagen ein neues Selbstverständnis entwickeln, was auch neue Kompetenzen sowie Denk- und Handlungsmuster bei den Prozessbeteiligten erfordert.
Reife Führungspersönlichkeiten sind gefragt
Ein Transformationsprozess betrifft also stets außer der Strategie und Struktur auch die Kultur eines Unternehmens. Und seine Mitarbeiter? Sie müssen sich und ihr Verhalten neu definieren und zumindest bezüglich ihrer Funktion in der Organisation eine neue Identität entwickeln. Entsprechend abwartend-distanziert stehen sie solchen Vorhaben oft gegenüber.
Transformationsprozesse sind zudem schwierig zu planen und zu steuern, da bei ihnen stets
- viele Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind und
- das angestrebte Endziel unter Vorbehalt steht – unter anderem, weil das Gesamtprojekt sich in einem dynamischen Umfeld vollzieht.
Deshalb müssen die Transformationsverantwortlichen bei der Projektplanung und -steuerung sehr agil agieren. Entsprechend groß sollte neben ihrer Change- auch ihre Projekt-Management-Kompetenz sein. Außerdem sollten sie reife Führungspersönlichkeiten sein, denen die Betroffenen, wenn nicht gerne, so doch bereitwillig folgen – weil sie ihnen aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und Persönlichkeit vertrauen.
Die fünf Kennzeichen „transformationaler Leader“
Solche Führungspersönlichkeiten bzw. transformationalen Leader, denen es gelingt,
- außer ihren Mitarbeitenden auch ihre sonstigen Beziehungspartner für das Veränderungsvorhaben zu motivieren,
- sie beim Beschreiten neuer Wege zu inspirieren und
- in ihrem Umfeld die für den Erfolg des Projekts nötige Veränderungsenergie zu erzeugen,
zeichnen sich in der Regel durch die nachfolgend beschriebenen Eigenschaften sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten aus.
- Kreativität bzw. „out of the box“ denken
Kreativ sein, heißt in diesem Kontext vor allem „out of the box“ denken; also sich bei der Suche nach neuen Lösungen nicht durch Konventionen einschränken zu lassen. Menschen neigen dazu, ausgetretene Pfade zu beschreiten. Inwieweit sie bereit sind, neue Wege zu gehen, hängt auch von ihrem Persönlichkeitsprofil ab.
Transformationale Führungskräfte verfügen über die Fähigkeit, querzudenken. Sie überraschen ihr Team und ihre Beziehungspartner immer wieder, denn sie fragen sich regelmäßig zum Beispiel:
- Wo denken und handeln wir zu traditionell?
- Wie muss künftig unser Businessmodell ausschauen, um wettbewerbsfähig zu sein?
- Inwiefern sollten wir unsere Organisation neu denken, um noch leistungsfähiger zu werden?
Sie sind experimentierfreudig und sehen tendenziell stets mehr Chancen als Risiken. Sie betrachten das Business als eine Art Spiel, bei dem es darum geht, mit Intelligenz und guten Ideen erfolgreich zu sein.
- Interaktivität bzw. mit den Netzwerkpartnern in einem regen Austausch stehen
Transformationale Führungskräfte suchen den Kontakt und Austausch mit Menschen. Sie vermitteln ihrem Umfeld zudem ein Gefühl der Leichtigkeit. Sie sind sozusagen Menschenfänger – und zwar bezogen auf alle Personen, mit denen sie beruflich in Beziehung stehen: seien dies Mitarbeitende, Kollegen, Kunden, Lieferanten oder externe Dienstleister. Sie überraschen und begeistern diese immer wieder mit neuen Ideen – auch weil sie die Bedürfnisse ihres jeweiligen Gegenübers erspüren.
Sie ziehen sich eher selten in ihre Büros zurück, um zum Beispiel Pläne auszuarbeiten. Stattdessen suchen sie bereichs- und funktionsübergreifend den Austausch auch mit ihnen nicht gleichgesinnten Personen, denn sie wissen: Um Menschen mitzunehmen, muss ich mit ihnen kommunizieren und zu ihnen eine Vertrauensbeziehung aufbauen. Deshalb investieren sie Zeit und Energie in diese Aufgabe.
- Eine Vision bzw. ein attraktives Zielbild vor Augen haben
Mit Menschen im Gespräch zu sein, allein reicht jedoch nicht. Der Austausch sollte auch eine Richtung haben. Deshalb brauchen Führungskräfte eine Vision, auch um sich nicht im Tagesgeschäft zu verlieren.
Transformationale Führungskräfte wissen, wie wichtig es ist, Menschen durch eine gemeinsame Vision in Bewegung zu versetzen – eine Vision, die auch sie selbst als sinnstiftend erfahren. Es gibt kaum etwas Attraktiveres und Aktivierenderes als eine Vision, die über das rein betriebswirtschaftliche, geschäftliche Ziel hinausweist. Sie ermöglicht es, das Team auf eine gemeinsame Reise mitzunehmen.
Jede Vision beinhaltet jedoch die Gefahr, dass es nicht klappt. Deshalb backen viele Führungskräften lieber kleine Brötchen. Genau hier liegt die Stärke einer transformationalen Führungskraft: Sie hat den Mut, neue, auch risikobehaftete Dinge anzugehen und beflügelt hiermit ihr Umfeld.
- Empowerment bzw. die Selbstwirksamkeit erhöhen
Damit ihre Vision Realität wird, brauchen Führungskräfte ein Team, das ihre Vision teilt und diese ebenso verwirklichen möchte wie sie selbst. Mit Mitläufern allein gelingt ihnen dies nicht. Also gilt es Menschen als Mitstreiter zu gewinnen, die etwas gestalten und selbstwirksam sein möchten.
Transformationale Führungskräfte scharen solche Menschen um sich und bieten ihnen den zu ihrer Entfaltung nötigen Freiraum. Sie vermitteln ihren Mitstreitern zudem das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung. Das heißt, die hierarchischen Verhältnisse spielen in der alltäglichen Zusammenarbeit fast keine Rolle; es geht immer um die gemeinsame Mission. Zudem vermitteln sie ihrem Team das Gefühl
- „Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft“ und
- „Bei Misserfolgen stehe ich vor euch und bei einem Erfolg hinter euch.“
- Passion bzw. mit dem eigenen Feuer die Netzwerkpartner entflammen
Im Kontakt mit transformationalen Führungskräften spürt man die Leidenschaft, mit der sie sich „ihrer Sache“ verschrieben haben und ihre Lust diesbezüglich etwas zu bewirken. Deshalb lässt sich ihr Umfeld von ihnen auch inspirieren und infizieren. Denn letztlich folgen Menschen stets Menschen bzw. lassen sich von ihnen führen.
Ist ein Chef hingegen nur halb bei der Sache, dann verhalten sich auch seine Mitarbeitenden entsprechend: Dann betrachten sie zum Beispiel das Projekt auch nur als eine Aufgabe und erledigen ihren „Job“. Anders ist es, wenn sie spüren: Unser Chef oder Kollege brennt hierfür mit Haut und Haaren. Dann wirkt dies ansteckend, denn man kann sich dieser Energie kaum entziehen.
Auch transformationale Leader haben Schwächen
Eine transformationale Führungskraft ist also eine Führungskraft, die mutig neue Wege geht und andere Menschen auf diese Reise mitnimmt. Das klingt nach der idealen Führungskraft! Die Praxis zeigt jedoch: Oft fällt es Führungskräften, die andere Menschen leicht inspirieren und mit ihnen Dinge bewegen können, schwer, einen Zustand zu stabilisieren und in Effizienz zu bringen. Denn dies erfordert speziell im Management-Bereich in der Regel Fähigkeiten, die nicht zu den expliziten Stärken transformationaler Führungskräfte bzw. Leader zählen.
Transformationale Führungskräfte sind tendenziell zwar mutiger als ihre Kollegen, deren Stärken primär im Managementbereich liegen. Sie unterschätzen zuweilen aber die mit Changevorhaben verbundenen Risiken und stürzen ihre Organisationen ins Verderben.
Faktisch benötigt deshalb jede Organisation, um sich nachhaltig zu entwickeln, sowohl Führungskräfte, die Veränderungen vorantreiben, als auch solche, die für die nötige Stabilität sorgen. Deshalb sind transformationale Führungskräfte oft nur befristet in ihrer Funktion. Sie treiben eine Veränderung voran und übergeben dann den Staffelstab.
Deshalb sollten sich Führungskräfte, wenn tiefgreifende Veränderungen in ihrem Unternehmen oder Bereich anstehen, auch selbst fragen:
- Bin ich eher ein transformationaler Leader oder ein Manager?
- Bin ich eher eine treibende Kraft der Veränderung oder eine stabilisierende Kraft?
Unternehmen brauchen Transformatoren und Stabilisatoren
Ein Werturteil ist mit den Antworten nicht verknüpft, denn letztlich braucht jedes Unternehmen Transformatoren und Stabilisatoren auf der Führungsebene bzw. Führungspersönlichkeiten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften, die diese beiden Rollen erfordern, mehr oder minder in sich vereinen und deshalb im Führungsalltag die erforderliche Verhaltensflexibilität zeigen.
Dies ist bei den meisten Führungskräfte der Fall, auch wenn ihre Stärken mal eher im Bereich Transformation und mal eher im Bereich Stabilisierung liegen. Deshalb lauten die Kernfragen, wenn es um das Thema „transformationale Führung“ geht, in der Praxis auch meist:
- Haben die Führungskräfte in unserer Organisation angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, aufgrund ihres Persönlichkeits- und Stärkenprofils die richtigen Führungspositionen inne? Und:
- Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sollten wir aufgrund der strategischen Ziele, die wir erreichen möchten, bei unserem Führungsnachwuchs verstärkt fördern?
In unserer von einer raschen Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten Welt sind dies – zurzeit – zumeist die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die einen transformationalen Leader auszeichnen.
Dr. Georg Kraus
Zum Autor: Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-Provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal. Auf LinkedIn bietet er einen kostenfreien Online-Kurs „Transformationale Führung“ an.