Der aktuelle Neuwirth Finance Zins-Kommentar
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird zum ersten Mal seit über 10 Jahren den Leitzins im Juli anheben, um den über Monate hinweg starken Inflationsdruck entgegen zu wirken. Für einige Marktteilnehmer kommt der Schritt zu spät. Es wird sogar an der Glaubwürdigkeit der EZB in der Erfüllung ihres Mandates gezweifelt. Doch der Gedanke ist zu kurz gedacht. Erfahren Sie in der heutigen Ausgabe des Zinskommentars, wie sich die Entscheidung der wichtigsten europäischen Notenbank einordnen lässt, und ob tatsächlich schon von einer bevorstehenden Zinswende gesprochen werden kann.
Hat jetzt auch die EZB eine Zeitenwende eingeläutet?
Neben der bevorstehenden Leitzinserhöhung von null Prozent auf 0,25 Prozent kündigte die EZB weitere Zinsschritte im September und über den restlichen Jahresverlauf an. Damit könnte der Leitzins bis zum Endes des Jahres die Ein-Prozent-Marke erreichen (Vgl. Abbildung 1). Darüber hinaus entschied die Notenbank, die Beendigung des Anleihekaufprogrammes (APP). Dies bedeutet zwar, dass keine Nettozukäufe mehr getätigt werden, aber auslaufende Anleihen und deren Tilgungsbeiträge können dennoch vollständig reinvestiert werden. Die Bilanz der EZB bleibt also vorerst stabil. Ähnlich entschied sich die Zentralbank hinsichtlich der im Rahmen des Pandemienotfallprogramms (PEPP) erworbenen Wertpapiere, deren Tilgungsbeiträge vorerst bis Ende 2024 wieder angelegt werden.
Abbildung 1: Leitzinsentwicklung und mögliche Zinserhöhungen für 2022
Quelle: EZB, eigene Darstellung
Zudem betont die EZB, dass die Wiederanlagen im Rahmen des PEPP jederzeit flexibel über den Zeitverlauf, die Anlageklassen und die Länder hinweg angepasst werden könnten, sollte es im Zusammenhang mit der Pandemie zu einer neuerlichen Marktfragmentierung kommen. Damit führt Lagarde die Politik Draghis fort, die davon gekennzeichnet ist, dass sich stark verschuldete Länder wie Griechenland und Italien stets über den Kapitalmarkt finanzieren konnten. Sollten einige Euroländer angesichts steigender Zinsen in die Bredouille geraten, könnte die EZB mit weiteren Anleihekäufen eingreifen und damit die Schuldenlast stabilisieren.
Die EZB begründete ihre Entscheidung mit den Auswirkungen des Ukrainekrieges auf die Energie- und Lebensmittelpreise und einem Inflationsdruck, der an „Breite und Höhe“ gewonnen hat. Zuletzt belief sich die Inflation im Euroraum auf stolze 8,1 Prozent. Trotz starker Anpassungen nach oben geht die Notenbank immer noch von einem Abfallen der Inflation im nächsten Jahr aus. So erwartet die EZB für 2023 eine Inflation von 3,5 Prozent und eine Kerninflation von 2,8 Prozent.
Der Markt sieht in der Ankündigung einer geldpolitischen Straffung die Bestätigung, dass sich die hohe und widerstandsfähige Inflation zu einem ernst zu nehmenden Problem entwickelt hat. Die Frage bleibt trotzdem, ob die EZB angesichts der Angebotsengpässe viel dagegen tun kann. Die Zinserhöhung ist richtig und bewahrt die Glaubwürdigkeit der EZB. Stimmen, die eine frühere Entscheidung gefordert hatten, sollten berücksichtigen, dass die Mehrheit nicht mit einem Krieg in der Ukraine und den verbundenen Engpässen auf dem Energie- und Lebensmittelmarkt gerechnet hat. Sollte sich die Lage auf der Angebotsseite nicht entspannen, können nur drastische Anpassungen der Geldpolitik den gewünschten Effekt auf die Inflationsrate erreichen und das würde einen hohen Preis in Form einer deutlichen Abschwächung der Konjunktur kosten. Es bleibt ein schmaler Grat, den die EZB zu gehen hat.
Zeitenwende – aber keine echte Zinstrendwende!