Den Handel trifft die Corona-Krise hart. Trotzdem werden gerade in diesem Ausnahmezustand immense Kräfte freigesetzt. Der Handel rückt zusammen und sucht gemeinschaftlich nach neuen Wegen in die Post-Corona-Welt.
Der Handel durchlebt – wie unsere gesamte Gesellschaft – gerade harte Zeiten. Jeden Tag gehen dem Handel (ohne Lebensmittel) circa 1,15 Milliarden Euro Umsatz verloren (HDE). Viele Einzelhändler mussten in den vergangenen Wochen ihre Geschäfte schließen, ebenso erleben viele Online-Shops eine stark nachlassende Kundennachfrage. Und doch spüren wir genau in dieser Krise, dass sich etwas bewegt, dass, genau weil wir aus alten Mustern ausbrechen müssen, neue Kräfte freiwerden. Große und kleine Händler arbeiten zusammen, Kunden und Kundinnen initiieren Hilfsprogramme und bieten Unterstützung, unterschiedliche Branchen finden gemeinsame Wege. Plötzlich werden verrostete Blockaden gelöst, Vorurteile und Konkurrenzdenken über Bord geworfen, gemeinsam nach Lösungen gerungen. Das, was gerade in dieser Zeit am wichtigsten ist, ist zusammenzuhalten. Wissen zu teilen und gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten. Was gerade im Handel passiert, bewegt uns sehr und deshalb haben wir uns entschieden, die Innovationskraft des Handels der vergangenen Wochen zu sammeln und zu kartografieren. Nicht mit dem Ziel, alle Innovationen oder Lösungen in Gänze und für jeden einzelnen aufzuzeigen, aber doch ein aktuelles Grund-Muster zu liefern, das spürbar macht, welche Kraft und Schnelligkeit der Handel an den Tag legt und welche Innovationen auch noch nach dem Krisenmodus für die Zukunft relevant sind.
Dash Delivery – neue Mobilitätskooperationen sichern die Lieferung nach Hause
Viele Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, während die Lebensmittelzusteller komplett überlastet ist. Kurzum: Lieferung wird zum entscheidenden Faktor in der Krise. Jenseits der bisherigen Services entstehen dabei überall neue Wege zum Kunden: Gastronomen werden zu Caterern, der Supermarkt zum Mobilitätsanbieter. In China hebt der Food-Delivery-Gigant Meituan Dianping die kontaktlose Auslieferung bereits auf die nächste Stufe und bringt die E-Food-Lieferungen von Meituan Grocery mit unbemannten Fahrzeugen und Robotern nach Hause. Eine leichter umzusetzende Lösung ist es, die Produkte als Händler selbst auszuliefern: So schickt die lokale Buchhandlung Topping & Company Booksellers im schottischen Edinburgh ihre Mitarbeiter zu Fuß oder per Rad mit den gekauften Büchern zu den Kunden. Marks & Spencer hingegen arbeitet mit Logistikpartnern wie Deliveroo zusammen, um wichtige Lebensmittel ausliefern zu können. Und Anbieter von Taxis, Leihwagen und Carsharing, Autovermietungen, vielleicht sogar der öffentliche Nahverkehr werden in der Krise zu neuen Lieferanten. Das Busunternehmen Löble Reisen aus Baden-Württemberg beispielsweise fährt jetzt mit seinen Bussen Waren zu Kundinnen, während in München der Taxidienstleister IsarFunk mit der Aktion „MyWirt“ lokale Gastronomen bei der Auslieferung unterstützt.
Streaming Services – der Handel bringt den Laden auf die heimische Couch
Chat oder Video ermöglichen es Händlern und Marken in Kontakt zu bleiben und auch in diesen schwierigen Zeiten neue Services und Shoppingangebote zu machen. Taobao Live, die Streaming-Plattform von Alibaba, zeigt beispielsweise Köche live in Restaurantküchen, Immobilienmaklerinnen, die von zu Hause aus Wohnungsführungen anbieten, Bauern, die für ihr Obst und Gemüse werben, und sogar Autohändlerinnen, die Luxusautos inszenieren und verkaufen. Calvin Klein feierte wiederum in Asien den Launch seiner Modekollektion in einem virtuellen Pop-up-Store. Dort traten nicht nur bekannte asiatische Sänger auf, die Kundinnen erhielten virtuell auch eine persönliche Führung zu ihren Lieblingsprodukten.
In Deutschland ziehen wir nach: Das Düsseldorfer StartUp LiSA (kurz für Live Shopping Assistant) bietet u.a. für Breuninger Live-Stream-Shopping und die passende Video-Beratung an. Viele lokale Einzelhändler nutzen Social Media, um mit ihren Kundinnen in Kontakt zu bleiben: z.B. Schuh Baar in Potsdam ermöglicht eine professionelle Beratung für den Kauf neuer Kinderschuhe via WhatsApp oder Zoom. Auch Luxusmarken versuchen die Quarantäne-Zeit zu überbrücken: Rolls Royce launchte vor kurzem die mobile Plattform Whispers, die Zugang zu einzigartigen Produkten, Erlebnissen und Austausch mit Oscar-Gewinnern und – laut eigenen Aussagen – den einflussreichsten Menschen der Welt schafft.
Crisis Business – Händler und Marken übernehmen Verantwortung
Die Krise macht es Händlern und Herstellern schwer, ihr normales Business weiterzuführen. Nicht nur die Not rund um geschlossene Geschäfte und verändertem Kundenverhalten lässt Unternehmen nach Alternativen suchen. Auch der Wille, Menschen in der Krise zu unterstützen und zu helfen, treibt sie an. Der Wäschehersteller Mey und der Bekleidungshersteller Trigema produzieren nun auch Mundschutzmasken, der Autobauer Fiat Chrysler und das Modeunternehmen Prada fertigen Schutzartikel für den Gesundheitsbereich. Immer mehr Händler und Hersteller, die ihre gängige Produktion und ihre Geschäfte derzeit einstellen müssen, produzieren nun Produkte, die in der Krise besonders benötigt werden. So plant auch H&M, Schutzkleidung für das Gesundheitspersonal herzustellen und zu spenden. Der Spirituosenhersteller Jägermeister liefert Alkohol an ein Klinikum. Henkell Freixenet spendet reinen Alkohol, den Merck nun verwendet, um Desinfektionsmittel herzustellen. LVMH, der weltweit führende Luxus-Konzern, produziert neben Alkoholika oder Parfüms nun Handdesinfektionsmittel, die auf dem Markt aktuell immer rarer werden. So leisten Retailer und Hersteller einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft in diesen Krisenzeiten.
Local Ecosystems – Kooperationen statt Konkurrenz zwischen Händlern
Überall schließen sich Händler zusammen, um die Krise gemeinsam zu meistern. Im Mittelpunkt steht der Ausbau einer gemeinsamen Präsenz. Ebay startete relativ früh das Soforthilfeprogramm für kleine und lokale Unternehmen, Shopware verbindet mittlerweile über 50 Anbieter aus dem Handel, um kleinere Geschäfte mit Trainings, Verkaufs- und Lieferungslösungen zu unterstützen. Und die Plattform Lozuka stellt die IT interessierten Händlern einer Region kostenlos zur Verfügung, um ein regionales Webkaufhaus einzurichten. Die noch im Aufbau befindlichen Apps Wir von hier und Lokalkauf sind das Ergebnis des Hackathons der Bundesregierung. Entweder man erhält die Ware direkt vom Händler oder über einen zwischengeschalteten Lieferservice. Aber auch lokale Unternehmen schließen sich branchenübergreifend zusammen und rufen Communitys ins Leben: So kann man heute einen Gutschein für den Lieblingsladen kaufen und ihn nach der Krise einlösen, z.B. auf helfen.berlin, vorfreude.kaufen in Wien, Heimatliebe in Wiesbaden oder weltweit auf pleasedontclose.com. In den Sozialen Netzwerken finden sich bereits zahlreiche Communitys von lokalen Einzelhändlern. Auch in vielen Städten werden online Plattformen und Portale vom Stadtmarketing und lokalen Werbegemeinschaften eingerichtet, auf denen Bewohner und Bürgerinnen mit lokalen Shops in Kontakt treten können, egal ob in Uelzen, Darmstadt oder Berlin etc.
Resource Sharing – Jobs sichern durch das Verleihen von Mitarbeitern
Nicht nur Produktionsausfälle und fehlende Kunden belasten die Wirtschaft. Einige Branchen haben genau das gegenteilige Problem: sie boomen durch die Coronakrise besonders stark und leiden unter Personalengpässen. Handelsriesen wie Amazon oder Walmart haben allein in den USA 250.000 neue Stellen ausgeschrieben, um den wachsenden Bedarf an Mitarbeiterinnen zu decken. Dieses Ungleichgewicht hat seit Beginn der Krise bereits zu einigen kreativen Lösungen geführt. In China haben bereits mehr als 40 Restaurants, Hotels und Kinoketten ihre Mitarbeiter an das Unternehmen Hema, die Online-Supermarktkette von Alibaba, ausgeliehen. Auch in Deutschland wurde eine Personalpartnerschaft zwischen McDonald’s und Aldi schnell bekannt: Die Fast-Food-Kette verleiht ihre Mitarbeiter, die zur Zeit nicht in den Restaurants gebraucht werden, an den Discounter. In Österreich wurde sogar eine eigene Jobplattform vom Wirtschaftsministerium und Handelsverband zur temporären Überlassung von Arbeitskräften für den LEH eingerichtet. Die aktuell entstehenden Win-win-Situationen zeigen, dass Entlassungen in der Wirtschaftskrise nicht zwingend sein müssen.
Worauf es jetzt ankommt
In dieser Krisenzeit für den stationären Einzelhandel zeigen sich Retailer solidarisch und höchst adaptionsfähig. Sie stoßen Dinge an, die sie jetzt dringend benötigen – entweder um Kundenmassen zu strukturieren und ihnen Waren zu liefern oder um Kundennachfragen in der Krise generieren zu können. Das, was lange in (Digital-)Strategiepapieren großer und kleiner Händler stand, wird nun pragmatisch und konsequent umgesetzt, während sich viele von ihnen gleichzeitig und im Rahmen ihrer Möglichkeiten noch hilfsbereit zeigen und sich sozial engagieren. Genau diese Unternehmen gilt es zu fördern und zu schützen, denn spätestens wenn wir die Krise überstanden haben, wird uns klar werden, welche Kreativität sie an den Tag legten und welch großen Beitrag die lokalen Einzelhändler und verantwortungsvollen Handels-Unternehmen für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft leisten.