Achtung, heute heißt es „Mitmachen“: Nehmen Sie sich bitte bei nächster Gelegenheit einmal 20 Sekunden Zeit (also zum Beispiel jetzt), um alle möglichen – und im ersten Moment vielleicht auch unmöglich erscheinenden – Assoziationen zum Begriff „Tomate“ aufzuschreiben.
Wie sieht Ihre Liste aus? Auf wie viele Wörter kamen Sie? Und sind es Wörter, von denen jeder zufällig Vorbeikommende sofort vermuten würde, sie hätten wohl alle irgendwie etwas mit einer „Tomate“ zu tun?
Im Grunde spaltet die Menschheit sich beim Assoziieren nämlich in zwei Lager:
Die einen haben vor sich eine Liste mit ein paar sehr naheliegenden Wörtern, wie beispielsweise rot, Gemüse oder Ketchup. Vermutlich sind sie sehr schnell auf ein oder zwei Handvoll von Wörtern gekommen und haben zum Ende der Zeit eher nichts mehr geschrieben und darauf gewartet, dass die 20 Sekunden endlich vergangen sind.
Die anderen blicken auf eine Vielzahl von niedergeschriebenen Assoziationen, worunter einige extrem weithergeholt sind, so wie Kino, Clown oder Kühlschrank. Wahrscheinlich war das Tempo, in dem diese Einfälle kamen, nicht so hoch, wie bei der ersten beschriebenen Gruppe. Dafür hätten die langsam Assoziierenden meistens, auch nach Ablauf der Zeit, noch munter und weiter vor sich hin assoziieren können, hätte man sie nur gelassen.
Neurologisch betrachtet, verfügen die Schnellschuss-Denker über sogenannte „steep associative hierarchies“, also steile Assoziations-Hierarchien; ihre Gehirne kommen auf wenige und naheliegende Assoziationen. Menschen mit so einem Assoziations-Rinnsal, gelten, nach der„Theorie der Kreativität“(1962) des US-Wissenschaftlers Sarnoff A. Mednick, als nicht unbedingt prädestiniert für die Entwicklung von kreativen Ideen, Lösungsansätzen oder eben auch „nur“ Assoziationen.
Die andere Gruppe mit der Endlosliste dagegen, hat also allem Anschein nach „flat associative hierarchies“, also flach verlaufende Assoziations-Hierarchien. Naheliegendes ist ihnen häufig zu kurz gedacht, zu wenig weit gesprungen. Sie lieben das mentale Trampolin, Ihre Gehirne reizen Aufgaben, wie die zu Beginn dieses Textes. Das Ergebnis ist eine Vielzahl verschiedener, scheinbar unzusammenhängender Denkansätze, die sie zeitgleich verfolgen. Aber können diese Menschen sagen, wie Sie auf solche scheinbar chaotischen Lösungen gekommen sind? Anwort: Ja! Und sie sind sogar in der Lage, diese Lösung ganz plausibel auf die Aufgabenstellung zurückzuführen. Ganz schön clever. Diesen Leuten, mit einer derartigen Assoziationsflut im Kopf, bescheinigen Forscher wie Martindale (1981) oder Mendelsohn und Griswold (1966), dass sie wahrscheinlich sehr häufig und einfach, ungewöhnliche und kreative Ergebnisse erzielen – wobei auch immer. Sind sie also die Könige der Kreativität? Von der Wissenschaft zum Ideen-Ritter geschlagen? Oder gibt es auch noch andere Wege zum Heureka?
Und ja, es gibt sie. Denn das eine ist die Ausgangslage, das andere ist, was man daraus macht. Soll heißen: Mit ein wenig Training kann sich fast jeder zum querdenkenden Assoziationswunder entwickeln. Im Grunde ist es ganz einfach, man braucht sich bloß selbst mit Situationen, Gegenständen, Themen und so weiter, zu befassen, die nichts mit der eigentlichen Aufgabenstellung zu tun haben. Also so eine Art kontrollierte Ablenkung, gezielte Verwirrung, ein Raus aus der zu starken Konzentration auf die Aufgabe. Es scheint sich sogar in einigen Studien zu bestätigen, dass Menschen mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, die sich also eher schlechter auf eine Sache konzentrieren können, starke Kreative sind.
Bevor es aber in Sachen gezielter Ablenkung zu praktischen Beispielen übergeht, noch eine kurze Geschichte, die das Leben schrieb.
Ein prominenter Beweis dafür, wie effektiv ein breites Wissensspektrum und ein großer Schatz an (Lebens)Erfahrung für kreative Ergüsse ein können, ist Steve Jobs, der im ersten Semester sein Studium abbrach und sich stattdessen unter anderem mit Kalligraphie-Unterricht beschäftigte. Er soll sich intensiv mit Schriftbildern und -zügen auseinandergesetzt haben – ganz ohne dafür in diesem Abschnitt seines Lebens eine wirkliche Verwendung oder einen praktischen Nutzen erkannt zu haben. Einige Jahre später erst, als Jobs sich mit der Entwicklung von Computern, oder viel eher mit Innovationen in der IT-Branche beschäftigte, zeigte sich, was sein Exkurs in die Schriftkünste gebracht hatte: In einer Bildschirmwelt, die ausschließlich aus schwarzen Bildschirmhintergründen mit hässlich-grünen Blockbuchstaben bestand, kreierte Jobs eine der buchstäblich schönsten Innovationen der Digitalgeschichte: nämlich die unteschiedlichen Schrifttypen, die wir heute jeden Tag auf dem Computer nutzen.
Es gibt viele Studien, die inzwischen belegen, dass unterschiedliche Reize das kreative Denkvermögen steigern; so lautete auch die Arbeitshypothese von Maria Clapham an der Drake University, USA. In ihrer Untersuchung gab sie einer Gruppe Menschen eine Aufgabe, bei der kreative Ideen gefragt waren. Bevor sie ans Werk ging, blieb diese Gruppe von jeglichen Reizen verschont. Eine zweite Gruppe indessen wurde gebeten, eine Vielzahl unzusammenhängender Artikel, Informationen und Schriftenschnipsel zu lesen, bevor sie mit der Kreativaufgabe begann – und signifikant besser abschnitt, als die „unter-informierte“ Gruppe.
Noch einmal zurück zu der freudigen Nachricht, dass jeder in der Lage ist, Quer- und Kreativdenken zu trainieren: Wie wäre es beispielsweise, mal einen Städtetrip in eine vollkommen fremde Stadt zu unternehmen? Oder sich hin und wieder eine Zeitschrift zu Gemüte zu führen, deren Genre einen normalerweise nicht interessiert? (Oft steckt hinter so verheißungsvollen Namen wie „Angel und Reuse“ oder „Der Metzger“ einiges an Inspiration).
Kürzlich war ich zum ersten Mal in einem „Fressnapf“-Superstore. Weder habe ich Fische, noch Kaninchen, keine Rennmäuse oder Wellensittiche. Die Chance, dass ich mir so ein posierliches Tierchen anschaffe, liegt bei Null. Schon allein wegen meiner Allergien. Ein Hautarzt hat mir mal bestätigt, dass ich mir ausschließlich Rinder anschaffen dürfe, auf alles andere reagiere mein Körper allergisch. Nur: Für eine Rinderherde fehlt mir der Platz. Also lass ich das. Und dennoch: Der Ausflug ins Tierfutter-Wunderland war grandios. Ich habe dort Produkte gefunden, die ich noch nie gesehen habe. Totenschädel-Deko für das Aquarium. Oder Katzen-Geschirre, die ich eher im Umfeld von „50 Shades of Grey“ verortet hätte. Und ich sah ein Mangroven-Holzstück, das mich zu einem Kunstwerk inspirierte. Denn gerade bin ich dabei ein neues Haus einzurichten. Was ist da passiert: Ich habe meine Einrichtungspläne mit einer Zufallsbekanntschaft „Mangrove“ bei Fressnapf kombiniert. Geplante Verwirrung. Ich war mir schon vorher fast sicher, dass mir im Inneren des Geschäftes so etwas passieren würde.
Übrigens funktioniert es auch gut, mal einen Artikel aus dem Zeitungsteil zu lesen, den Sie gewöhnlich nicht mal aufblättern. Einfach mal ran an den Kulturteil, auch wenn das so gar nicht ihre Sache ist. Und auch wenn Sie Fußgänger sind, kann der Motor-Teil Sie zu kreativen Höhenflügen bringen.
Auch die Lesung, die einen eigentlich nicht anspricht, oder der Vortrag zu einem Thema, das einen bisher kalt ließ, oder der Science Fiction-Film für
Genre-Hasser sind oft hervorragende Fundgruben. Etwas mögen oder beflügelt werden sind oft zwei paar Schuhe.
Vielen hilft auch schon der berühmte Spaziergang mit offenen Augen und wachem Blick durch die Natur, währenddessen sich ganz bewusst auf Dinge konzentriert wird, die nichts mit der eigentlichen Aufgabenstellung zu tun haben. Wenn die Assoziationen dann später, im Büro, wieder bei der Problemstellung, nicht gleich fließen wollen, kann es effektiv sein, etwas, das man auf seinem Spaziergang sah, gedanklich mit der Aufgabe zu verlinken – oft sprudelt es dann irgendwann von selbst.
Und wer über die Ausstattung von Räumen entscheiden kann, in denen kreativ gearbeitet werden soll, tut gut daran, dafür zu sorgen, dass Mitarbeiter hier auf wechselnde Reize stoßen: Ob Zeitschriften, Lithographien, Knetgummi oder anderes Spielzeug – auch hier sollten der Kreativität alle Möglichkeiten zur Entfaltung geboten werden.
Gerriet Danz ist seit mehr als zwei Jahrzehnten einer der anerkannten Experten für Innovation und Kreativität. In seinen Vorträgen ermuntert der passionierte Querdenker, mehrfache Start-up-Gründer und Bestsellerautor sein Publikum dazu, eingetretene Pfade zu verlassen und Change als Chance zu begreifen. Danz ist Dozent der Steinbeis Hochschule Berlin und berät Kunden wie das Europäische Patentamt, Adobe, BMW und die Schott AG.