Nichts ist unausrottbarer als unser Glaube, Experten sprächen a priori die Wahrheit. Wenn dieser „Experte“ dann auch noch einen Professorentitel trägt, scheinen wir unseren Verstand auf Sparflamme zu schalten.
Mit dem unerschütterlichen Glauben an Experten haben wir selbst dieser Manipulation eine große Tür aufgemacht. Was ist eigentlich ein Experte? Grundsätzlich gibt es zwei Sorten. Jene mit akademischen Titeln und Experten kraft Aussage.
Nicht jeder weiß, wie akademische Karrieren zustande kommen. Schon nach dem Grundlagenstudium beginnt die Spezialisierung. Die Diplomarbeit beleuchtet ein noch kleineres Feld der Erkenntnis, denn schließlich muss sie nicht etwa das Aufzählen empirischer Fakten enthalten, sondern eine eigene geistige Leistung. Das ist ziemlich schwierig geworden heutzutage, wo Millionen von Akademikern zum Beispiel im Fach Chemie ihre Diplomarbeiten schreiben. Man stürzt sich also auf einen winzig kleinen Teil der Leinwand, und malt mit einem Pinsel, der nur ein Haar hat.
Dann kommt der Doktortitel. Und wenn man ihn mit ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit erlangen möchte, muss man wissenschaftlich bisher unergründetes finden. Das Stück Leinwand wird immer kleiner, mikroskopisch klein. Dann folgen Jahre als „Postdoc“ an irgendeinem Institut, an der Universität oder in der Freien Wirtschaft. Noch einmal wird der Fetzen der Forschung kleiner, dem der Wissenschaftler seinen Namen aufprägen kann. Bis zum ersehnten Professorentitel und so weiter und so weiter.
Auf keinen Fall ist man anschließend in der Lage, mit breitem Pinsel ein großes und prächtiges, meinetwegen auch nur impressionistisches Bild seiner kompletten Wissensdisziplin zu malen. Im Gegenteil. Schließlich ist man als Nobelpreisträger (die ultimative Stufe der akademischen Laufbahn) zu einem Fachidioten geworden, wird aber im Fernsehen als Genie herumgezeigt und darf alles sagen. Eigentlich ist man zur Fata Morgana geworden.
Der „gewöhnliche Experte“ wird einfach nur ausgelobt. Im Fernsehen – gerade die Privatsender – benutzen den Begriff ganz inflationär. Ein Experte im Fernsehen steht für die Richtigkeit der Aussagen – ein Nachweis für „Qualitätsjournalismus“. Ansonsten ist der Experte eine gelungene Marketing-Kreation. Nicht mehr und nicht weniger.
Das heißt nicht, dass alle Experte keine Ahnung haben. Die aktuelle Finanzkrise zeigt aber überdeutlich dass wir uns Experten gegenüber völlig falsch verhalten. Wir sollten eher skeptischer sein – als gläubiger. Kaum ein Problem ist so simpel, dass es von nur einem einzigen Experten beschrieben oder gar gelöst werden kann.
Nobelpreisträger in der Küche
Wenn Sie in Ihrem täglichen Leben eher weniger mit Nobelpreisträgern zu tun haben – wie wäre es mit den vielfältigen Problemen beim Einbau Ihrer neuen Küche?
Sie benötigen einen Installateur. Der hat aber keine Ahnung von Elektrik. Dann muss ein Fachmann die schönen neuen Fliesen anbringen. Schließlich kommt noch der Maler, der verputzt und alles streicht. Anschließend brauchen Sie einen Eheberater, weil die Küche doch nicht so aussieht, wie Ihre Holde es sich vorgestellt hatte. Kämen Sie auf die Idee, diese Aufgaben einem Professor für Innenarchitektur zu übertragen? Das ist natürlich eine rhetorische Frage.
Nobelpreisträger melden Konkurs an
Ein klassisches Beispiel dafür, wie Experten sogar viele tausend Fachleute manipulieren konnten – gerade wegen ihres Nobelpreises – ist der Zusammenbruch des 1998 größten Hedgefonds: Long-Term Capital Management, kurz LTCM genannt.
Long-Term Capital Management (LTCM) war ein 1994 von John Meriwether (früherer Vize-Chef und Leiter des Rentenhandels bei Salomon Brothers) gegründeter Hedgefonds. Unter den Präsidenten waren auch Myron Samuel Scholes und Robert C. Merton, denen 1997 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde.
Während der Währungskrise in Russland 1998 verspekulierten sich die Experten gehörig. LTCM stand nicht mehr genug Eigenkapital zum Ausgleich zur Verfügung und seine komplette Zahlungsunfähigkeit stand kurz bevor. In dieser Situation war ein Zusammenbrechen der US-amerikanischen und internationalen Finanzsysteme mehr als wahrscheinlich. Und das war 1998. Die ganze Börse hängt eben nur davon ab, ob es mehr Aktien gibt als Idioten – oder umgekehrt.
Wir kommen jetzt nicht wirklich weiter, wenn wir auf andere Erklärungsmuster ausweichen. Kahneman (ein berühmter US-amerikanischer Psychologe, Nobelpreis 2002) hat zum Beispiel einen schönen Spruch gemacht: „Geld wird nicht gezählt. Geld wird gefühlt.“
Und ein Hedgefond, der von zwei Nobelpreisträgern der Wirtschaftswissenschaften geführt wurde, fühlte sich eben sehr gut an.
Der Wolf im Schafspelz
Und dann gibt es noch Experten, die im Namen der Wissenschaft auftreten aber eigentlich Lobbyisten sind. Da gibt es den von den Medien gerne hochgehaltenen Rentenexperten-Professor von einer Fachhochschule der in den Medien die Vorzüge der Riesterrente auslobt. Ein genauer Blick in sein Tätigkeitsspektrum entlarvt dann aber die Versicherungsbranche als spendablen Brötchengeber (Sie finanziert großzügig seinen Lehrstuhl mit, fragt um seinen Rat und lässt Ihnen als Referent auftreten). Doch das kriegt keiner mit.
Aber nicht nur bei den großen Fragen der Lebensrisiken tauchen Experten auf. Kaufen Sie mal einen Lattenrost, eine Matratze oder wirkungslose Medikamente. Gerne werden Experten mit akademischen Titeln in Verbindung mit wohlklingenden Institutsnamen herangezogen um die perfekte Experten-Illusion aufbauen und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Denn der Otto-Normalverbraucher kennt das Institut eben nur vom Vorbeifahren an der Uni – dass das oben genannte Institute mit Wissenschaft nichts zu tun hat schwant den wenigsten.
Experten ohne Titel
Experten sind auch Experten, wenn sie keinen akademischen Titel tragen. Denn die Investmentbanker haben sich nicht lange damit aufgehalten, akademische Titel anzuhäufen. Wir sind ihnen trotzdem nachgelaufen und tun es immer noch. Bitte beachten Sie, wie stark uns die Experten der Finanzindustrie manipuliert haben, bestimmte Begriffe geradezu umzucodieren. Schulden? Meine Eltern wussten noch, dass Schulden ein sehr negativer Begriff war. Wie denken wir heute darüber? Seit etwa zehn bis zwanzig Jahren beobachten wir diese begriffliche Umcodierung. Schulden sind plötzlich mit einem Schlag nichts mehr, wofür man sich schämen müsste, ganz im Gegenteil. Wer sich nicht verschuldet, ist naiv. Warren Buffett hat das einmal sehr elegant ausgedrückt: „Debt now become something to be refinanced rather than repaid.“ (Schulden werden etwas zum Umfinanzieren. Nicht zum Zurückzahlen.) Und alles das haben uns „Experten“ eingebrockt. Wir sind ihnen gefolgt wie die Lemminge. „Aus Dreck Gold machen“ – das sind die alchemistischen Weisheiten der Finanzakrobaten. Groß nachgedacht haben wir selten.
Kaum eine Dienstleistung die heute verkauft wird, kommt ohne Experten aus. Titel unwichtig, Qualifikation zweitrangig. Wenn „Experte“ drauf steht wird es schon richtig sein. Das haben wir gelernt. Für den Experten zahlen wir gerne etwas mehr. Ein ungeschützter Begriff der Sicherheit vermittelt. Es ist doch einfach beruhigender wenn „Der Experte für Anlagestrategien“ ihr Geld abgreift – äh managed als es bloß vom Bankkaufmann Müller verwalten zu lassen, oder?
Neonschrift im Kopf
Zweifelsohne versteht mein Arzt mehr von Bronchitis. Natürlich mein Anwalt mehr vom Erbrecht. Selbstverständlich mein Steuerberater mehr von Abschreibungen. Aber Faktenwissen ist nur eine Seite der Medaille. Weisheit und Lebensklugheit eine ganz andere. Wir schalten nur allzu gerne unseren Verstand aus, wenn uns jemand als „Experte“ gegenübertritt. Damit werden wir das willkommene Opfer von Experten. Vom Arzt, der mir als willkommenem Privatpatienten eine teure, aber auch wirkungslose Spezialtherapie verpasst. Vom Anwalt, der mir eine zu optimistische Prognose über den vielleicht zu führenden Prozess gibt. Vom Steuerberater, der mir empfiehlt in Schweinebäuche zu investieren, weil er „zufällig“ dazu auch ein „Finanzprodukt“ im Angebot hat. Wenn Ihnen in Zukunft also ein Experte gegenübersitzt – vertrauen Sie ihm ruhig – aber lassen Sie gleichzeitig vor Ihrem inneren Auge eine rote Neonschrift aufleuchten: Vorsicht Manipulation.
Wolf Erhardt
Ich mache doch, was ich nicht will
Wie wir täglich manipuliert werden und wie wir
uns dagegen wehren können
1. Auflage BusinessVillage 2011
254 Seiten
Der Autor
Wolf Ehrhardt ist Unternehmensberater und beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit den Manipulationsmustern der Verhaltensökonomie. Er ist Betriebswirt sowie Diplom-Ingenieur und ergänzte seine akademische Ausbildung durch einen Master in Behavioral Economics. Wolf Ehrhardt ist Autor zahlreicher Publikationen, unter anderem „Verkaufen mit Psychologie“ und „Nicht geschenkt“.