BRD: BGH III ZR 249/09: Unterlassenes Lesen des Emissionsprospekts und Verjährung – Der BGH geht zu weit

Von Rechtsanwalt Daniel Blazek

Der BGH hat wieder einmal für eine Entscheidung gesorgt, die von Schützeranwälten aufgegriffen und zum Standardvorbringen in Klagen gegen Fondsgesellschaften und Finanzdienstleister werden wird. Demnach kann es dem Anleger nicht mehr als grob fahrlässig vorgehalten werden, dass er es unterließ, den übergebenen Emissionsprospekt zu lesen, weil er den Angaben des Anlageberaters vertraute. Folge ist, dass unter diesem Aspekt eine Verjährungsfrist gem. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht mehr beginnen können soll.

I. Die Entscheidung

Das Ausgangsgericht entschied, dass der Kläger und Kapitalanleger im Jahre 1999 nicht über die Risiken, vor allem das Totalverlustrisiko, eines geschlossenen Immobilienfonds aufgeklärt wurde. Der Fonds geriet ab 2002 in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Zwangsverwaltung setzte im Jahre 2005 und die Insolvenzverwaltung im Jahre 2006 ein. Der Anleger verklagte seinen Berater im Jahre 2007 vor dem LG Köln, welches der Klage stattgab. Das OLG Köln half der Berufung des Beklagten nicht ab. Der BGH pflichtete dem OLG Köln bei. Neben dem Umstand, dass eine solche unternehmerische Beteiligung nicht als sichere Kapitalanlage beworben werden darf, entscheid der BGH vor allem, dass das unterlassene Lesen des Emissionsprospekts nicht ohne Weiteres für den Fristbeginn der Verjährung heran gezogen werden kann, was der Beklagte einwandte.

Hauptargument für den BGH ist eine wertende Betrachtung, nach der es dem Anleger nicht zugemutet werden könne, dass er die Risiken seiner Kapitalanlage nicht bemerke, bevor sein Schadenersatzanspruch verjährt. Die in den Emissionsprospekten enthaltenen Fachausdrücke und die Fülle der Prospektangaben sollen zudem gegenüber einem persönlichen Gespräch mit dem Berater oder Vermittler regelmäßig in den Hintergrund treten.
Der Anleger vertraue dem Berater bzw. Vermittler also mehr als dem Prospekt. Unterlasse es der Anleger, seinen Berater bzw. Vermittler mittels des Prospekts zu kontrollieren, so soll dies wiederum auf das Vertrauensverhältnis weisen. Es liege zwar zweifellos im besonderen Interesse des Anlegers, den Prospekt eingehend durchzulesen, und die Aushändigung eines hinreichenden Prospektes kann im Einzelfall als Aufklärungsmittel genügen (vgl. BGH III ZR 145/06, NJW-RR 2007, 1692 Rn. 9; BGH III ZR 302/07, NJW-RR 2009, 687, 688 Rn. 17; BGH III ZR 17/08, WM 2009, 739, 740 Rn. 12; BGH II ZR 310/03, NJW 2005, 1784, 1787 f). Es stelle aber andererseits „nicht ohne Weiteres“ ein besonders grobes Verschulden gegen sich selbst dar, ihn nicht zu lesen.

II. Kritik

Die Entscheidung ist mehr ein verbraucherschützender Standpunkt, denn ein dogmatisch auf Anhieb einleuchtendes Urteil. Letztendlich führt der BGH an: 1. Wer sich persönlich beraten lässt, vertraut dem Berater und liest nicht. Und wer nicht liest, der vertraut dem Berater (bzw. „weist dies auf das bestehende Vertrauen zurück“). 2. Wer vertraut, macht sich nicht schuldig gegen sich selbst. 3. Es kann nicht sein, dass ein Anleger ein Risiko eines Fonds erst bemerkt, wenn es für einen Schadenersatz schon zu spät ist.

Dass, wer sich beraten lässt, vertraut und nicht liest bzw. wenn er nicht liest, vertraut, ist eine In sich-Begründung und keine – auch nicht besonders juristisch anmutende – Herleitung. Außerdem vermag der Verweis auf Fachausdrücke oder die Prospektfülle das in den Berater oder Vermittler gesetzte „Vertrauen“ nicht auf ganzer Bandbreite zu tragen bzw. den Anleger nicht gänzlich frei zu zeichnen. Denn dies würde die Annahme voraussetzen, dass die Ausführungen des Beraters bzw. Vermittlers aus Sicht des Anlegers den Prospekt vollends ersetzen oder verdrängen. Je umfangreicher oder je fachspezifischer der Prospekt allerdings ist, so unwahrscheinlicher ist die Annahme eines Anlegers, dass bloße mündliche Erläuterungen dies vermögen. In den Instanzgerichten wird dem Finanzdienstleister vielmehr regelmäßig vorgehalten, dass er eben nicht in der Lage sein kann, die Inhaltsfülle mit mündlichen Erläuterungen ersetzen zu können. Und nun sollen normalerweise nicht erschöpfende mündliche Erläuterungen eines Beraters oder Vermittlers zu einem Prospekt-Äquivalent gereichen?

Ferner: Wenn ein inhaltlich hinreichender Prospekt als Aufklärungsmittel genügen kann, wie ist es dann dogmatisch überhaupt möglich, wegen unterlassener Aufklärung belangt zu werden, wenn man das hinreichende Aufklärungsmittel übergeben hat?

Der Verweis auf ein per se bestehendes „Vertrauen“, weil der Berater persönlich anwesend ist und mit dem Anleger spricht, reicht zu der Beantwortung dieser Frage nicht aus, zumal der BGH selbst konstatiert, dass es im besonderen Interesse des Anlegers liegt, den Prospekt eingehend zu lesen.

Das Fachausdrücke- bzw. Komplexitäts-Argument vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Jedenfalls überzeugt es solange nicht, wie man nicht künftig auch Bankberater oder Kreditsachbearbeiter dafür haftbar machen will, dass der „allgemeine“ Kreditnehmer die hypothekarische Besicherung seines Annuitätendarlehens nicht fehlerfrei erläutern und Zinsen- und Tilgung nicht berechnen kann im Vergleich zu einer endfälligen Tilgungsvariante oder man Wählerstimmen nicht für ungültig erklären möchte, weil die „Allgemeinheit“ das personalisierte Verhältniswahlrecht nicht erklären kann, oder aber man nicht falsche Steuererklärungen für völlig entschuldbar hält, weil der Erklärungspflichtige das Steuersystem in seiner Komplexität nicht begreift.

Indes: Nicht so im Verbraucherschutz im Zusammenhang mit geschlossenen Fonds! Hier gilt: Kommt der Vermittler persönlich vorbei und erläutert die Kapitalanlage, so „vertraut“ der Anleger und muss nichts mehr lesen bzw. sich das Nichtlesen einer komplizierten Vermögensanlage nicht vorwerfen lassen. Der BGH führt der Finanzdienstleistungsbranche mithin erneut vor Augen, dass hier die Anleger besonders naiv und schutzwürdig zu sein scheinen.

Das Argument des Wertungswiderspruchs leuchtet ebenfalls nicht ein, jedenfalls nicht vor dem Hintergrund grob fahrlässiger „Unkenntnis“. Denn wie kann es zu Wertungswidersprüchen führen, dass sich Risiken einer Kapitalanlage zu spät bemerkbar machen, wenn das Nichtbemerken ein anderes Wort für Unkenntnis ist und die Unkenntnis von Tatsachen in § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB kodifiziert ist? Die Kernfrage ist doch nicht, ob man etwas zu spät bemerkt, sondern wie und warum bzw. ob die Unkenntnis grob fahrlässig war. Dies wiederum beantwortet der BGH mit dem „Vertrauen“ in den Anlagebrater (auch bei besonderem Interesse des Anlegers am Studieren des Emissionsprospekts).

Schließlich: Addiert man diese Entscheidung des BGH zu derjenigen desselben Senats vom 19. November 2009 (III ZR 169/08: Bei jeder Pflichtverletzung beginnt die Verjährungsfrist neu), so ergibt sich bizarrer Weise, dass nun nahezu jeder Anleger bei jeder neu entdeckten Pflichtverletzung sich den besten und ausführlichsten Emissionsprospekt einer komplizierten Kapitalanlage nicht mehr entgegen halten lassen muss, da faktisch die meisten Kapitalanlagen persönlich vermittelt werden. Da die Behauptung, den Emissionsprospekt nicht erhalten oder gar gelesen zu haben, aber zum Standardvorhalt in Anlegerschutzprozessen gehört und den Finanzdienstleister die sekundäre Darlegungslast für das Gegenteil trifft – was nun im Ergebnis als unerheblich qualifiziert wird, weil das durch das Gespräch bedingte „Vertrauen“ das Eigeninteresse des Anlegers in Bezug auf den Prospekt verdrängen soll – , fragt sich, ob sich der Finanzdienstleister nicht am Besten eliminieren soll, da einer unpersönlichen, postalischen „Vermittlung“ ein höherer Beweiswert zukommt. Sarkasmus beiseite: Was kann ein Finanzdienstleister noch tun, außer einen hinreichenden Prospekt beim zumindest vorletzten Gespräch zu übergeben und sich dessen Erhalt schriftlich bestätigen zu lassen?

III. Reaktion, Sonderbestätigung

Die Kritik und das Lamentieren erfolgen nahezu vergebens: Der BGH hat gesprochen, und die Finanzdienstleistungsbranche und Emissionshäuser können sich darauf einstellen, dass bloße Prospektquittungen nicht mehr zum Argument der Verjährung infolge grob fahrlässiger Unkenntnis führen, was die Verfahren ankurbeln und die Schützeranwälte freuen wird.

Überdies wird die Entscheidung vermutlich bei den meisten Instanzgerichten dazu führen, dass auch der Bereich expliziter Kenntnisnahmequittungen über einen Kamm geschoren wird mit dem bloßen Nichtlesen von Prospekten. Hier jedoch ist die Sachlage anders zu beurteilen und sind künftig besonders sauberes Arbeiten und Beharrlichkeit gefragt, sowohl auf Seiten der Finanzdienstleister, wie auch auf Seiten ihrer Prozessbevollmächtigten.

Denn der BGH führt aus, dass das bloße Nichtlesen keine grob fahrlässige Unkenntnis bedeutet. Anders sieht die Sache freilich aus, wenn der Anleger explizit urkundlich macht, dass er den jeweiligen Emissionsprospekt nicht nur erhalten, sondern auch gelesen und insbesondere die Risikohinweise zur Kenntnis genommen hat.

Denn wer dies eigenhändig urkundlich macht, muss sich nach wie vor grob fahrlässige Unkenntnis vorhalten lassen. Hier liegt der Vorwurf nicht nur im Nichtlesen, sondern in der eigenen schriftlichen Bestätigung des Gegenteils. Dies stellt ein „Mehr“ im Vergleich zum bloßen Erhalt bzw. Nichtlesen dar, ohnehin verschärft um die Grundsituation, dass es bereits per se im besonderen Interesse des Anlegers liegt, den Prospekt zu lesen. Diese Differenzierung wird vor Gericht erfahrungsgemäß erst einmal zu erkämpfen sein.

Wir raten bereits seit Jahren den Finanzdienstleistern und Emittenten, in ihre Protokolle einen entsprechenden Passus – im Idealfall handschriftlich vom Anleger selbst verfasst – aufzunehmen und in einem weiteren, späteren Protokollteil hierauf noch einmal bestätigend Bezug zu nehmen und dies ebenfalls gegenzeichnen zu lassen.

Rechtsanwalt Daniel Blazek
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Die Rechtsanwälte Blazek Ellerbrock Malar Trube sind vornehmlich auf den Gebieten des Bank- und Kapitalmarktrechts, des Rechts der Finanzdienstleister und des Wirtschaftsstrafrechts bundesweit tätig. Jeder der Sozien verfügt über die Erfahrungen aus mehreren Hundert Verfahren für diverse Kapitalanlageunternehmen und Vertriebe. Die Sozietät hat zwei Standorte: Markdorf und Bielefeld.

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